Sonntag, 10. Juni 2012

Erst kommt das Fressen, dann die Moral

Auf den knorrigen alten Holzstufen zum Heuboden hinauf, da hockt ein kleines Mädchen. Die Haare sind zerzaust, die Augen voller Tränen. Ein kräftiger Mann in Gummistiefeln betritt den Hof, er hält einen Strick in der Hand. Mit ihm verlässt ein junger Stier den Stall, er trottet misstrauisch und immer wieder stockend hinter dem Mann her, über die Laderampe hoch, auf den Laster. Das Mädchen springt auf. „Mörder!“ schreit es, dass es ihm die Stimme verschlägt. „Ihr seids alle Mörder!“ Die strafenden Blicke der Mutter sieht es gar nicht mehr vor lauter Verzweiflung und Wut.

Das kleine Mädchen, das war ich, vor geschätzten 30 Jahren. Das Gefühl der Ohnmacht hat sich derart eingebrannt, dass es heute noch weh tut. Rückblickend betrachtet war mein Verhältnis zum Thema Fleischkonsum aber ein sehr zwiespältiges und das ist es noch heute. Als Kind habe ich Wurst geliebt. Gleichzeitig haben ich und meine Geschwister unsere Mutter in den Wahnsinn getrieben, weil wir das Fleisch von Tieren, die wir kannten, nicht essen wollten. Musste ein Stier den Hof verlassen, war es jedes Mal eine Tragödie. Wurden aber Hühner geschlachtet, schauten wir interessiert, manchmal auch belustigt zu. Lag eine tote Sau im Trog, haben wir die Gunst der Stunde genutzt, um das reglose Wesen genau zu studieren. Bei den Schafen war es schon wieder schwieriger, mit den Hasen auch.

Mittlerweile weiß ich, dass all diese Tiere ihr Leben unter Umständen ließen, die für heutige Verhältnisse idyllisch waren. Die meisten starben am Hof, in einer Umgebung, die sie gewöhnt waren, durch Hände, die sie tagaus, tagein gefüttert und versorgt hatten. Das Vieh fuhr nur wenige Kilometer weit zum Fleischer im Ort. Im Vergleich dazu ist es unvorstellbar, was unsere „Nutztiere“ heute erdulden und erleiden müssen. Uns ist jeglicher Respekt ihrer Würde, ihrem Empfinden gegenüber abhanden gekommen. Hauptsache, es steht jeden Tag Fleisch auf dem Tisch. Und zwar so billig, dass es gar nicht mehr möglich ist, seinen Wert und seine Kostbarkeit überhaupt noch zu schätzen.

Während meiner Studentenzeit habe ich, aus genau diesen Gründen, fünf Jahre lang vegetarisch gelebt, hatte aber nach einer gewissen Zeit einen derartigen Heißhunger auf Frankfurter, Schnitzel und Leberkäs, dass ich mir irgendwann eingestehen musste, dass es nicht mehr geht. (Mit Schrecken denke ich gerade an die komplett genussfreie Beilagenplatte mit Spiegelei zurück, die ich damals, aus Mangel an Alternativen, immer im Gasthaus bestellen musste. Jedes einzelne Mal war ein Ma(h)l zuviel.) Eigentlich ganz klassisch und das, was wir Ernährungswissenschafter immer predigen: Nur ja keine Verbote, denn dadurch werden diese Dinge erst so richtig erstrebenswert und interessant. So war es (leider) auch bei mir.

Heute bin ich bei einer vegetarisch ausgerichteten Ernährung angelangt: Ich koche nur selten Fleisch (mit Wurst schon eher und wenn ich das rational betrachte, liegt der Grund wahrscheinlich darin, dass dieses Lebensmittel perfekt dazu geeignet ist, seine Geschichte zu verschleiern). Damit liege ich – offensichtlich – voll im Trend. Es macht mich nämlich zu einem Flexitarier. Ein Flexitarier ist ein Mensch, der kein Vegetarier ist, aber Veggie liebt (Ähnlichkeiten mit aktuellen Werbespots sind nicht zufällig, und ich wette, ihr habt jetzt alle eine bestimmte Frau im Kopf). Mittlerweile gibt es auch schon einige öffentliche Kampagnen, die zu einem bewussteren Fleischkonsum aufrufen. Neben tierethischen Aspekten geht es dabei auch um die Klima- und Umweltschutzdebatte:

              

      

Meine große Hoffnung ist, dass dies keine reine Lifestyle- und Zeitgeist-Erscheinung ist, sondern wir Menschen endlich beginnen, umzudenken. Um positiv zu bleiben: Ich habe das Gefühl, das Umdenken hat bereits begonnen. Einer der Auslöser war das Buch „Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer, das auch im deutschsprachigen Raum auf der Bestsellerliste stand (ich habe es nicht gelesen, obwohl ich wahrscheinlich sollte, aber ich kann einfach nicht). Die Kernaussage: Das Tierleid, das wir in der heutigen Zeit hervorrufen, hat Dimensionen angenommen, über die kein fühlender Mensch mehr hinwegsehen kann. Eigentlich müssten wir alle Veganer werden. Für eine solche Lebensweise bin ich aber (noch) nicht bereit. Wie viele andere auch. Außerdem ist da noch: diese verdammte Bequemlichkeit.

So. Es muss aber etwas geschehen. Kennt ihr den Film „Unterwegs nach Cold Mountain“ mit Nicole Kidman und Jude Law? Darin gibt es eine Szene, in der eine alte, allein im Wald lebende Frau ein kleines Zicklein schlachtet, um sich selbst zu versorgen. Sie nimmt das Tier, streichelt es, flüstert ihm ins Ohr, verabschiedet sich, bedankt sich bei ihm. Dann tötet sie es schnell und scheinbar schmerzlos.
Ich bin mir bewusst, dass diese Art von Schlachtromantik eine Wunschvorstellung ist, aber es ließe sich so vieles so viel besser machen. In Wahrheit müssen wir genau das tun, was ich als Kind verweigert habe: Tiere essen, die wir kennen. Von denen wir wissen, wie sie gelebt haben und wie sie gestorben sind. Wir müssen uns informieren und dann entscheiden und uns trauen, auch unsere eigenen Gefühle ins Spiel zu bringen. Und unseren Kindern den Respekt vor anderen Lebewesen beibringen, auch das ist wichtig.

Hiermit rufe ich eine neue Ernährungsform aus, die da heißt: Denkend genießen. Oder auch: Wissend genießen. (Mit)Fühlend genießen. Dieser Aufruf gilt auch (und vor allem) mir, denn immer noch bin ich viel zu oft viel zu bequem.

P.S.: Ich werde euch in den nächsten Tagen mit fleischlosen Rezepten füttern. Lasst es euch schmecken!

4 Kommentare:

  1. Sofort bin ich da dabei liebes Mädel vom Land!

    Wie du so schön gesagt hast- der Verzicht alleine bringt nichts außer Heißhunger- da meine ich jetzt gar nicht Fleisch speziell.
    Ich versuche, an zumindest 3 Wochentagen gar keine Fleisch- und Wurstprodukte auf den Tisch zu bringen, an den restlichen Tagen max 1x tgl.

    Und deine Schilderung von der Gemüseplatte als einziges vegetarisches Gericht in Gasthäusern- das weiß ich auch noch ganz genau (auch wenn ich ja kein Vegetarier bin/war). Wobei, manchmal kamen noch TK-Gemüselaibchen dazu ;-) Leider hat sich diesbezüglich noch nicht überall soo viel geändert- heute habe ich öfter das Problem, dass sich kaum etwas vegetarisches auf der Karte findet.
    Lg Himbeerschoko

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  2. PS.: "Tiere essen"- wie oft hatte ich dieses Buch schon in der Hand. Ich Leseratte, die kein Werk auslässt normalerweise- aber leider, auch ich konnte mich bisher noch nicht überwinden. Die Wahrheit so eiskalt präsentiert zu bekommen schaffe ich dann wohl auch nicht.

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  3. Die Szene aus dem Film kenne ich gut. Sie ist mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben, und auch, wenn es eine gestellte Filmszene ist, hat sie mich trotzdem zutiefst berührt. Ich teile Deine Ansichten voll und ganz. Meine vegetarische Phase zu Studentenzeiten hat allerdings nur ein Jahr gedauert ;-) Ich habe meinen Frieden mit mir selbst gefunden, indem ich ausschließlich biologisches Fleisch aus Österreich kaufe und den Fleischkonsum drastisch reduziere. Vor allem ist es mir wichtig, dass von einem geschlachteten Tier alles verwertet wird, nicht nur Lungenbraten und Henderlbrust - aus Respekt vor dem Tier. Die Berge an Schlachtabfällen, die von unserer Gesellschaft produziert werden, sind eine Schande.
    Lieben Gruß von Frau Ziii

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  4. Ich bin derzeit bei Null Mal Fleisch pro Woche angelangt, Himbeerschoko, nachdem uns das Thema bei der Ernährungstagung in Wien letzte Woche auch aus der Sicht eines Veganes dargelegt wurde. Da ist mir der Appetit schon ziemlich vergangen.

    Ein wahres Wort, Frau Ziii, "from nose to tail", so wie früher halt. Danke für deine Zeilen.

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