Wo bleibt da meine Mündigkeit, meine Selbstbestimmung? Letztlich entscheide doch ich ganz allein, was in meinem Einkaufskorb landet, oder etwa nicht? Und ich glaube auch fest daran, dass es erwachsenen Menschen möglich ist, schönfärberische Werbeaussagen mithilfe der eigenen Vernunft relativieren zu können. Lasse ich mich verführen? Ja, natürlich, warum auch nicht? Aber ich weiß, wann es genug ist, das sagt mir mein Verstand. Der ist halt auch hin und wieder eingeschaltet. Ziemlich regelmäßig sogar.
Hach, ich rege mich zu sehr auf. Aber so was ist auch zum Ärgern finde ich: Der Spiegel, Ausgabe 10/2013. Die Lebensmittelindustrie als Menschen-Mäster und Suchtmacher. Acht Seiten lang lese ich darüber, was die modernen Konzerne alles unternehmen, um uns Menschen von ihren Produkten abhängig zu machen. Wissentlich machen sie uns süchtig, mit Fett, Salz und Zucker. Der Beweis für diese These wird auch prompt erbracht:
„Der Mediziner weiß, wovon er spricht; er hat einen Selbstversuch gemacht. Er kaufte Schoko-Kekse (viel Zucker, viel Fett, eine Prise Salz) und legte sie vor sich auf den Tisch. Der Sog zuzugreifen sei enorm gewesen. Doch der Professor blieb standhaft, stundenlang. Schließlich ließ er seine Kekse liegen und ging ins nächste Café. Doch als er dort an der Theke auch wieder Süßigkeiten erspähte, wurde er schwach. Er verschlang einen Schoko-Keks.“
Hä?
Er verschlang also einen Schoko-Keks. So what???
Reportagen wie diese sind Balsam für die Seelen jener, die zwar furchtbar finden, was sich in der undurchsichtigen Lebensmittelindustrie so alles abspielt, die aber trotzdem ganz froh sind, wenn sie bei sich selbst nichts ändern müssen und nach einer kurzen Phase der Empörung wieder zu ihrem gewohnten Kauf- und Essverhalten zurückkehren können. Man möge mich nicht falsch verstehen: Ich finde es abartig, was in der industriellen Lebensmittelproduktion passiert. Und furchtbar traurig, dass Ehrlichkeit und Transparenz oft genug an letzter Stelle stehen. Aber ich wehre mich dagegen, mir einreden zu lassen, dass ich all dem ausgeliefert bin und nichts daran ändern kann.
Meine Wahrheit ist: Ich kann mich bewusst dafür entscheiden, selbst zu kochen, frisch zu kochen, mir die Zeit zum Essen und Genießen zu nehmen. Keiner zwingt mir Lebensmittel auf, die ich nicht will. Meine Ernährung, das bin ich.
Nachtrag 1: Kinderprodukte sind ein ganz anderes Thema. Anders als wir Erwachsenen können sich Kinder nicht gegen haltlose Versprechen wehren, schon gar nicht gegen bunte Farben, Comic-Helden oder kleine Geschenke. Werbeaussagen, die sich an Kinder richten, müssen noch viel stärker reglementiert und reduziert werden als es schon jetzt von den Herstellern verlangt wird.
Nachtrag 2: Die Spiegel-Reportage zeigt außerdem eindrucksvoll, warum Old School Ernährungsberatung nicht funktionieren kann:
„Mit den Lebensmittelattrappen stellte Zehbe nun zusammen, was man zur Kohlenhydrataufnahme jeden Tag essen darf: ein Brötchen mit Honig, einen Apfel, zwei Kartoffeln, eine große Scheibe Brot, ein Schälchen Erdbeeren und „zum Genießen“ (Zehbe) ein winziges Stückchen Schokolade. Herr Ahmed wirkt nicht überzeugt. Wie zum Trost legt Zehbe dem untersetzten Mann noch ans Herz, Gemüse in der Pfanne zu dünsten oder roh zu knabbern. Das helfe gegen den Hunger, sagt sie, ebenso wie magerer Quark, den er sich mit Leitungswasser anrühren und in Deckelgläsern abfüllen möge, als Mahlzeit zum Mitnehmen.“
Ähem. Eben.
Guten Morgen,
AntwortenLöschenfinde deine Beitrag echt gut!
Lg Netzchen
Kann nichts anderes tun als dir zuzustimmen- wie meistens :-)
AntwortenLöschenWenn man sich nicht die Mühe macht, den Genuss hinter "gesunden" Lebensmitteln zu entdecken, dann werden sie auch immer nur eins bleiben: gesunde Lebensmittel. Und die lehnen viele ja schon mal aus Prinzip ab. Schade, denn noch niemals war es so einfach, aus solch einem Angebot an hochwertigen Nahrungsmitteln zu wählen. Wobei, vllt macht es auch eben dieses unerschöpfliche Angebot aus???
Magerquark mit Leitungswasser angerührt - so ein Topfen ;-)
AntwortenLöschenAuf den Spiegel-Artikel war ich sehr neugierig, habe dann beim Lesen schnell resigniert und ihn nur mehr überflogen.
Du hast so recht: wenn ich mir einreden kann, dass ich allem ausgeliefert bin: der Lebensmittelindustrie, den Grosskonzernen, dann muss ich auch nie selbst Verantwortung für mein Essen und Tun übernehmen und brauch nur mehr auf DIE schimpfen - und weiterhin deren Produkte konsumieren.
Danke Netzchen!
AntwortenLöschenIch stimme dir auch zu, Himbeerschoko. "Gesund" ist per se schon mal nicht grad positiv besetzt. Und das unerschöpfliche Angebot... Ja, vielleicht sieht man da wirklich den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen...
Besser lässt es sich nicht ausdrücken, Eline, ein richtiger Topfen ;-) Es ist einfach immer wieder der Klassiker: Sündenbock suchen, in die Wüste schicken, weitermachen wie bisher. Offenbar wollen wir einfach nichts draus lernen...